poniedziałek, 19 października 2015

Ahnungslos bis zum Aufprall

L
ange Zeit herrschte in der Piloten-
szene Ratlosigkeit. Alle fragten sich,
was während des Air-France-Flugs
AF 447 an Bord geschehen war.
„Es ist, als würde man auf eine Mauer
zurasen und Gas geben", sagt der ame
-
rikanische Flugsicherheitsberater William
Voss, Präsident der Flight Safety Founda-
tion. Er meint das scheinbar unerklärliche
Verhalten der französischen Piloten, die
in der Nacht des 1. Juni 2009 mit ihrem
Airbus A330 in den Atlantik stürzten.
Doch nun haben Experten das Myste
-
rium offenbar weitgehend enträtselt. Ende
voriger Woche stellte die franzö
sische Flug-
unfalluntersuchungsbehörde Bea bei Paris
ihren Abschlussbericht zu dem Absturz
vor. Nach der Veröffent
lichung des Reports
scheint festzustehen, warum die Crew ihr
Flugzeug in die Höhe riss, obwohl sie es
hätte nach unten drücken müssen.
Auslöser für den vier Minuten dauern-
den Todeskampf der Air-France-Mann-
schaft waren Geschwindigkeitssensoren,
die ausgerechnet in dem Moment ver
-
eisten, als die Maschine in die Gewitter-
wolken eines Unwettergebiets flog. Schon
seit Jahren war bekannt gewesen, dass
die von Air France verwendeten Mess
-
geräte besonders anfällig sind.
Dennoch hatte es die europäische Flug-
sicherheitsbehörde Easa versäumt, den
Austausch zwingend anzuordnen. Erst im
Monat vor dem Absturz bestellte Air
France neue, zuverlässigere Sonden. Die
ersten Exemplare wurden am 30. Mai
2009 eingebaut – nicht aber in der Ma-
schine mit dem Kennzeichen F-GZCP, die
tags darauf in Rio de Janeiro zu ihrem
letzten Flug abhob.
Dabei hätte allen Beteiligten klar sein
müssen, wie wichtig die Geschwindig-
keitssensoren sind – vor allem für ein Air-
bus-Modell heutiger Generation. Fällt die
Tempoanzeige aus, dann gerät die Sicher-
heitsarchitektur des Langstreckenfliegers
ins Wanken. Denn bei Airbus, so wie bei
den neuesten Boeing-Modellen, wachen
Flugcomputer darüber, dass die Maschine
nicht durch falsche Steuerbefehle des
Piloten in eine gefährliche Fluglage gerät.
Die Flugcomputer liefern auch jene In-
formationen, die der Autopilot zum Flie-
gen braucht. Doch fehlen den Rechnern
so wichtige Angaben wie die aktuelle Ge-
schwindigkeit, dann schalten sie sich in
eine Art Notmodus („Alternate Law").
Genau das geschah an Bord von AF
447 sogleich nach dem Ausfall der Ge-
schwindigkeitssensoren. Eine ganze Kas-
kade von Warnmeldungen folgte, der
Autopilot schaltete sich aus.
Ausgerechnet in diesem Moment saß
nicht der erfahrene Kapitän Marc Dubois
am Steuer. Der 58-Jährige hatte den Be-
fehl an den unerfahrensten seiner Co-
Piloten, Pierre-Cédric Bonin, übergeben
und sich schlafen gelegt – die Ruhepause
stand ihm rechtlich zu, sollte sich aber
als großer Fehler erweisen.
Der 32-jährige Bonin hatte erst gut 800
Stunden auf dem Airbus-Modell geflogen.
Schon bald war er mit der Situation über-
fordert, zog die Maschine „exzessiv"
nach oben, so der Bea-Bericht.
Andererseits stießen die Ermittler auch
auf einen nachvollziehbaren Grund:
Durch den Ausfall der Geschwindigkeits-
anzeige gaben die Flugcomputer kurzfris-
tig an, die Maschine habe hundert Meter
an Höhe verloren und sinke weiter – eine
krasse Fehlinformation.
Wie die Bea-Ermittler glauben, vertrau-
te Bonin der falschen Anzeige und ver-
suchte, wieder an Höhe zu gewinnen.
„Das ist ein Instinkt", analysiert der A330-
Kapitän einer großen deutschen Airline –
zumal Bonin im Hinterkopf gehabt habe,
dass in tieferen Flughöhen das Unwetter
noch heftiger tobe.
In dieser Stress-Situation vergaßen Bo-
nin und der zweite Co-Pilot eine alte Flie-
gerregel: den Neigungswinkel des Flug-
zeugs und die Motorenleistung zu kon-
trollieren. Sind deren Werte normal, dann
ist die Maschine nicht in Gefahr.
Zehn Sekunden dauerte es, bis die
Crew begriff, dass sie keine zuverlässigen
Geschwindigkeitsangaben mehr hatte.
Der A330 schoss mit aufgestellter Nase
in die Höhe, die Maschine verlor an Tem-
po – die Luftströmung drohte abzureißen.
Bei einem solchen „Stall" fällt ein Flug-
Technik
DER SPIEGEL 28/2012
124
LUFTFAHRT
Ahnungslos bis

zum Aufprall
Beim Absturz des Air-France-Flugs AF 447 vor drei
Jahren missachteten die Piloten Grundregeln der Fliegerei – doch
auch falsche Computeranzeigen führten sie in die Irre








zeug wie ein Stein in die Tiefe. Genau
davor warnte sie eine männliche Compu-
terstimme im Cockpit.
Der Reflex eines erfahrenen Piloten
wäre: die Nase des Fliegers senken und
wieder an Tempo gewinnen. Doch die
französische Crew, die ein solches Manö-
ver viel zu lange nicht trainiert hatte, zog
die Maschine weiter nach oben. Warum?
Viele der von den Bea-Experten befrag-
ten Piloten gaben an, Stall-Warnungen zu
ignorieren, weil es häufig Fehlalarm gebe.
Möglich auch, dass die anderen akusti-
schen Signale die Sinne der Crew bereits
voll in Anspruch genommen hatten.
Co-Pilot Bonin jedenfalls riss das Flug-
zeug weiter nach oben – und auch dazu
könnte ihn eine fehlerhafte Anzeige ver-
leitet haben. Gemeint ist der sogenannte
Flight Director, eine Anzeige gut sichtbar
vor ihm auf dem Armaturenbrett, die zu-
nächst ausfiel, dann aber wieder ansprang
und ihn anwies: Nase hoch!
Auf dieses Computerverhalten stießen
die Ermittler nach Auswertung der Black-
box-Daten – eine Enthüllung, die selbst
gestandene Piloten alarmiert. „Das hat
ihr Fehlverhalten auf jeden Fall ver-
stärkt", sagt der erfahrene A330-Kapitän.
Zu dieser Ansicht kommt auch ein neues
Gutachten aus Frankreich.
Flugsicherheitsexperten haben es par
-
allel zur Bea-Untersuchung verfasst, und
zwar für ein Strafrechtsverfahren, das die
Hinterbliebenen angestrengt haben. Das
zwischenzeitliche Auftauchen des Flight
Director führte „zu einem starken Hoch-
ziehen" durch die Piloten, steht in dem
noch vertraulichen Gerichtsgutachten.
Airbus verweist auf die gültige Check-
liste, die jeder Pilot auswendig kennen
müsse. Der zufolge hat die Crew bei Aus-
fall der Geschwindigkeitssensoren den
Flight Director auszuschalten. Doch intern
scheint die irreführende Anzeige des Flug-
computers größere Besorgnis auszulösen.
Schon kurz nach dem Absturz verschickte
Airbus an alle Airlines ein „Operations
Engineering Bulletin", das ermahnt, in
vergleichbaren Situationen wie bei Flug
AF 447 auf keinen Fall nach den Kom-
mandos des Flight Director zu fliegen.
Möglicherweise ist die Software der
Flugrechner sogar schon diskret ver
-
ändert worden. Darauf deutet eine Luft-
tüchtigkeitsanweisung vom 27. Oktober
2011 hin, in der die Aufsichtsbehörde Easa
eine Änderung der Software anordnet.
Umzusetzen ist diese Anweisung inner-
halb von zehn Monaten nach Inkrafttre-
ten; betroffen sind Hunderte Airbus-
Modelle der Reihen A330 und A340.
Die Ermittler sind davon überzeugt,
dass die Crew ihren Irrtum bis zum
Schluss nicht bemerkte. Schlimmer noch:
Die Piloten ignorierten insgesamt 75 War-
nungen vor einem Strömungsabriss; die
Männer waren sich sicher, viel zu schnell
unterwegs zu sein. Unter anderem leite-
ten sie das aus den lauten Strömungs
-
geräuschen ab – doch der Lärm entstand,
weil das Flugzeug mit 3000 Metern in der
Minute auf den Erdboden zuraste.
Als der Kapitän schließlich aus seiner
Schlafkabine kam, verstand auch er nicht
mehr, was los war. Da befand sich die
A330 bereits in einer Lage, in der „noch
kein Passagierflugzeug jemals war", ur-
teilen die Bea-Ermittler. Selbst wenn die
Piloten die Flugzeugspitze nun sofort
nach unten gedrückt hätten – geholfen
hätte ihnen das wohl nicht mehr. Denn
längst hatte sich die Höhenflosse auf den
Maximalausschlag von 13 Grad eingestellt
und richtete die Flugzeugspitze weiter ge-
fährlich nach oben.
„Die Piloten hätten schon mit aller
Wucht den Steuerhebel nach vorn drü-
cken müssen, damit sich die Höhenflosse
wieder zurückbewegt und die Flugzeug-
spitze endlich nach unten geht", sagt der
erfahrene A330-Kapitän. Dafür war die
Flughöhe allerdings schon zu niedrig.
Was bleibt, ist eine bittere Erkennt-
nis: Hätten die Piloten nach dem Ausfall
der Geschwindigkeitsmesser einfach gar
nichts gemacht, dann wäre ihr Flugzeug
auch nicht abgestürzt. „Statt auf funda-
mentale Prinzipien des Fliegens zurück-
zugreifen, folgten sie den fehlerhaften
Anzeigen der Computer", sagt Flug
-
sicherheitsexperte Voss und fordert: „Pi-
loten müssen wieder lernen, das Flug-
zeug mit der eigenen Hand steuern zu
können."
Dass Unfallermittler nach jedem Un-
glück großen Aufwand betreiben, um das
Fliegen sicherer zu machen, ist für die
Angehörigen der 228 Opfer kaum ein
Trost. Kurz vor dem Weihnachtsfest 2011
erhielt Barbara Crolow den Sarg ihres
Sohnes. Man habe Alexander gefunden,
gemeinsam mit den Flugschreibern.
Die Mutter bat ihren Bestatter, nach-
zusehen, was denn in dem Sarg liege: Ein
Leichensack, war seine Antwort, sorgfäl-
tig gefaltet, als läge dort ein ganzer Kör-
per. Crolow: „Drinnen fand der Mann
zwei Stücke Knochen, vier und fünf Zen-
timeter lang."
GERALD TRAUFETTER
DER SPIEGEL 28/2012
125
2.14 Uhr 23 Sekunden
Co-Pilot Bonin: „Scheiße, wir werden crashen. Das
darf nicht wahr sein! . . . Aber was passiert hier?"
2.14 Uhr 27 Sekunden
Kapitän: „Pitch von 10 Grad."
Nach 1,4 Sekunden
Aufprall. Der Airbus hatte in den letzten Minuten
eine Rechtskurve gedreht und stürzt entgegen-
gesetzt der ursprünglichen Flugrichtung ab.
2.11 Uhr 32 Sekunden
Co-Pilot Bonin: „Verdammt, ich habe
die Kontrolle über das Flugzeug verlo-
ren." Co-Pilot Robert: „Links übernimmt
Kommando!"
Erneute Warnung vor
Strömungsabriss.
2.11 Uhr 43 Sekunden
Der Kapitän
kommt ins Cockpit:
„Was
macht ihr da?" Co-Pilot Robert: „Wir
haben die Kontrolle total verloren. Wir
verstehen nichts mehr."
Das Flugzeug
verliert rund 3000 Meter Höhe pro
Minute. Der Kapitän bleibt hinter den
Co-Piloten.
2.12 Uhr 14 Sekunden
Co-Pilot Robert: „Was denkst du? Was sollen wir
tun?" Kapitän: „Nun, ich weiß es nicht."
Sie disku-
tieren, ob sie steigen oder fallen. Verbleibende Flug-
höhe gut eine Minute später: knapp 3100 Meter.
2.13 Uhr 40 Sekunden
Co-Pilot Robert: „Steigen, steigen, steigen, steigen!"
Co-Pilot Bonin: „Aber ich hab den Steuerhebel schon
die ganze Zeit nach hinten gezogen." Der Kapitän
be-
merkt wohl Bonins Irrtum:
„Nein, nein, nein . . . Nicht
steigen . . ." Co-Pilot Robert schreit: „Dann geh nach
unten! Mach, gib mir die Steuerung, mir die Steue-
rung!"
Bei 600 Meter Höhe automatische Warnung:
„Hochziehen!" Co-Pilot Bonin übernimmt, ohne zu
fragen, wieder die Steuerung.

Video:
Todesflug
AF 447
Für Smartphone-Benutzer:
Bildcode scannen, etwa m

Quelle

PDF]Szene - ElectronicsAndBooks




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